Werkjahrbeiträge
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«(Un)sinn des Lebens» ist ein Buch, das mit ironischen, tragischen und poetisch-philosophischen Geschichten einen Einblick in die schicksalhafte Wirklichkeit, in die Fantasie, Utopie und den Idealismus gewährt.
Die Menschen, von denen erzählt wird, sind unterschiedlichen Charakters, leben in unterschiedlichen Lebensumständen, an verschiedenen Orten und in verschiedenen Beziehungen. Trotzdem verbindet alle ein ähnliches Thema: Sie versuchen sich im Leben zurechtzufinden, daraus auszubrechen oder ihr Schicksal anzunehmen.
Wie ihnen das gelingt, davon erzählt dieses Buch.


Der Fernsehsüchtige

Draussen war es grau, nass und unfreundlich. So zeigte sich das Wetter schon den ganzen Tag über, und mittlerweile war der Nachmittag dem Abend gewichen. Eines jener Wochenende verabschiedete sich, an dem man vergeblich auf Sonnenschein gehofft hatte, und so trauerte man ihm nicht nach. Man hatte nichts unternommen, war nicht im Garten gewesen, nicht auf dem Spaziergang, hatte keinen Besuch bekommen und war besonders darüber froh, dass man keine unnötige und lästige Konversation mit der diskutierfreudigen Verwandtschaft hatte betreiben müssen. Ja, ruhig war es geblieben. So wie öfters in letzter Zeit.
Sein Körper versank im Sessel und seine Arme, die wie dürre Äste aus dem kurzärmligen Hemd ragten, liess er über die Lehnen baumeln. Seine rechte Hand umfasste die Fernbedienung und der Daumen drückte mechanisch den Powerknopf. Das löste ein crescendierendes Gemurmel aus und der Fernseher begann zu leben.
Er hatte sich in eine Talkshow eingeklinkt, schnappte Wörter wie Öko-Steuer, zukunftsweisende Tendenzen und pragmatische Sanktionen auf. Davon verstand er nichts und das Thema langweilte ihn rasch. Ausserdem konnte er Politiker nicht leiden. Der eine lügt genauso wie der andere; nur ist der eine geschickter und der andere weniger ... Aber warum sprachen diese Männer immer in solch unverständlichem Deutsch? Wollen die am Ende gar nicht, dass man sie versteht? ... Er liess einen Seufzer hören, zappte zwei Kanäle weiter und blieb beim Spielfilm «Die Katze auf dem heissen Blechdach» hängen. Wunderbarer Film! ... Er lümmelte sich tiefer in den Sessel und blickte fiebrig auf den Bildschirm. Den Streifen hatte er gewiss schon acht Mal gesehen, liess sich aber gerne aufs Neue in seinen Bann ziehen. Er liebte amerikanische Filme, vor allem jene früherer Hollywoodstars, und er besass Videokassetten, die sich bereits zu Hunderten im Schrank stapelten. Er kannte sie alle, konnte den Text seiner Filmhelden beinahe synchron sprechen und lächelte ein unsichtbares Lächeln, wenn er in Gary Coopers Gestalt schlüpfte und sich der Zeiger High Noon näherte.
Die auf Zelluloid gebannten Bilder sah er sich zu jeder Tages- und Nachtzeit an. Das einzig Reelle, das wahre Leben, es musste in diesen Filmen stecken. Daran gab es keinen Zweifel. Die Geschichten waren alltagsnah, waren tragisch, schicksalhaft, manchmal grausam, manchmal poetisch und erquickend. Alle Facetten spiegelten sich darin wider. Genau wie im richtigen Leben, nur übersichtlicher ... Warum sich also mit der Welt ausserhalb des Wohnzimmers herumplagen? Die Filme erzählten ja, was wesentlich und unverzichtbar war. Das erleichterte das eigene Leben ungemein.
Es war eine seltsame Szene, die sich dem Betrachter bot. Seit Monaten fristete er sein Rentnerdasein und fand die einzige Befriedigung darin, sich dem Fernsehen zu widmen. Er hatte sich damit abgefunden, sich mit Träumen zu begnügen und stillte seine Sehnsüchte durch jene seiner Filmhelden. Nur in deren Welten, deren Emotionen und Gedankenwelten fühlte er sich wohl und lebendig. Die Realität war ihm fremd, war ihm unwichtig geworden. Die Filmwelt, das war sein Leben. Wie trügerisch es indes war, hatte er nicht realisiert. Er hatte nicht bemerkt, wie sich die bittersüsse Einsamkeit nach und nach in seinen Knochen festzusetzen begann, hatte nicht erkannt, dass er selbst Teil einer Utopie geworden war – unnahbar, unfassbar, schwebend. Er ähnelte bereits jenen wächsernen Figuren, die man in Ausstellungen misstrauisch beäugt und nicht recht weiss, ob sie nun Leben in sich tragen oder nicht, die eingefrorenen Züge unwirklich und ein bisschen unheimlich, wie die einer Schaufensterpuppe. Und wahrlich pochte nur noch wenig Lebensenergie in seiner Brust. Seine Glieder waren taub geworden, seine Seele müde. Diesen Weg hatte er gewählt, sich unwissentlich dafür entschieden, die Zeit zu ignorieren.
Die heruntergelassenen Jalousinen versetzten den Raum in ein Dämmerlicht und nur jenes Licht, das aus dem Fernsehapparat in den Raum strahlte, durchbrach die Düsternis. So wurde der Tag zum Abend und die Nacht zum unbekannten Morgen. Es spielte keine Rolle, wie spät es war oder welcher Wochentag, welcher Monat geschrieben wurde. Das Wohnzimmer war Mittelpunkt seines Lebens. Es war zu einem Raum geworden, in dem sich alles abspielte: Hier nahm er seine Mahlzeiten ein, hier ruhte er sich aus, hier lachte er, trauerte, hier schlief er ein und hier wachte er morgens wieder auf. So war seine Welt.
Seine zu Schlitzen verengten Augen wichen keinen Moment vom Bildschirm. Sein Blick klebte an dem Gerät, das die ganze Welt in sich barg und Wahrheiten ausspie, die sich in all dem Schönen, allem Guten und Reinen vereinten, das er zu kennen und erkennen glaubte. Kaum einen Laut gab er von sich, nur das leise Rasseln seines Atems war zu vernehmen.
Das Programm war längst zu Ende und das Testbild flimmerte schwarz-weiss. Er hatte es nicht wahrgenommen. Sein Blick haftete wie hypnotisiert am Apparat. Er sah Farben, Landschaften, die sich erhoben, wölbten, erstreckten und teilten, in Wälder überflossen, in Strassen und Städten endeten und mit Menschen belebt wurden, die sich unterhielten, sich begegneten und wieder verliessen. Die filmische Geschichte hatte ein Eigenleben begonnen, setzte sich in seiner Fantasie fort und er nahm Anteil daran. Er war inmitten dieser Landschaften, Umgebungen und unter diesen Menschen, die er begleitete, beobachtete und deren Schicksal nun in seinen Händen lag. Er vermochte das Geschehen zu lenken und zu leiten, war Schöpfer, Beteiligter und Zuschauer zugleich. So, versunken und eingehüllt in eine Welt aus Fantasien, verharrte er in seinem Sessel, minutenlang in regungsloser Haltung, und träumte vor sich hin. Die Vorstellungskraft, das Hinübergleiten in eine Dimension von unbegrenzten Möglichkeiten, das war etwas Wundervolles. Er liebte es. Man hatte alle Macht, war Gott und Teufel.

«Schaust du einen Film?», fragte eine Frauenstimme, die aus einer fernen Nähe zu ihm drang.
Er antwortete nicht.
«Adam, was schaust du denn?» Geschirr klapperte.
Keine Reaktion.
«Bist du wieder vor der Kiste eingeschlafen?» Es klang gereizt.
Er sagte kein Wort. Er war müde geworden. Ja, seltsam müde. Sein Körper fühlte sich noch schwerer an als sonst und er wünschte sich fort, weit fort von dieser Erde.
«Adam!», kreischte sie nach einer Weile und murmelte dann verärgert: «Morgen werfe ich diesen Fernseher aus dem Fenster!» Die Gummihandschuhe landeten im Waschbecken. Sie schlurfte ins Wohnzimmer hinüber.
«Adam, nun habe ich aber genug! Du wirst in diesem Stuhl noch sterben!» Sie näherte sich rasch und stellte sich zwischen den Fernsehapparat und den Filmsüchtigen, der mit geschlossenen Augen im Sessel hing. Sein Kopf war zur Seite geknickt.
«Adam, was ist mit dir?» Der Zorn war aus ihrer Stimme verfolgen. «Liebling?», hauchte sie beunruhigt und kniete sich vor ihrem Mann nieder, rüttelte an seinen Schultern. «Adam, so wach doch auf! Was hast du denn?»
Er gab kein Lebenszeichen von sich.
Ihre Mundwinkel begannen zu zucken und kleine Tränenbäche rannen über ihre Wangen. «Es tut mir Leid, so Leid! Verzeih mir bitte, dass ich ... verzeih mir!» Zitternd berührte sie seine Hände. Sie waren leblos geworden.
Schluchzend legte sie ihren Kopf in seinen Schoss und vergoss Tränen für einen Menschen, den sie einst geliebt, später verachtet und nun verloren hatte.




Christina Gasser
Autorin
Geboren am 15. April 1975
Aufgewachsen in Luterbach
Lebt in Derendingen
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